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Radix ist eine in London ansässige Denkfabrik mit politischer Richtung zur radikalen Mitte. Die hier in meiner deutschen Übersetzung wiedergegeben Artikel sind außer bei den angegebenen Zeitungen auch bei Radix erschienen. Es handelt sich um EU-Themen.
https://radix.org.uk

EUROPA KANN SICH EINE RÜCKKEHR ZUR GESCHEITERTEN POLITIK DER VERGANGENHEIT NICHT LEISTEN

4. März 2019

Übersetzung eines Artikels von Dr Joe Zammit-Lucia, der zuerst in CityAM erschienen ist

Ich gehöre nicht zu den Befürwortern der politischen Zentralisierung. Fest überzeugt stehe ich zum Grundsatz der Subsidiarität als praktische Realität und eben nicht als Floskel in einem Staatsabkommen.

Nicht desto weniger gibt es Bereiche, wo Europa besser bedient ist, wenn es einheitlich vorgeht. Zu diesen Bereichen gehört die Wettbewerbspolitik: Hier sieht sich Europa mit der wachsenden Macht der oligopolistischen Konzerne konfrontiert, die gern sämtliche Märkte beherrschen, den Bürgern die Wahlfreiheit nehmen und Fortschritt sowie Innovation drosseln.

Desto mehr enttäuscht es, wenn Frankreich und Deutschland, angeblich die treibenden Kräfte der europäischen Integration, dafür plädieren, den nationalen Regierungen zu gestatten, die Wettbewerbsentscheidungen auf EU-Ebene umzustoßen.

So im Kern der Streit um den Zusammenschluss von Siemens-Alstom, der zur Entrüstung von Berlin und Paris von der EU aufgrund Wettbewerbsbedenken blockiert wird.

Der Vorwand für den Aufruf, im Falle eines Riesenzusammenschlusses die europäische Wettbewerbspolitik zu missachten, liegt bei der Notwendigkeit, mit China zu konkurrieren und mit ihrer wachsenden Bedrohung fertig zu werden. Diese Argumentation greift nicht.

Angesichts des Konkurrenzdruckes aus dem Osten wollen Frankreich und Deutschland anscheinend zu den Strategien der 70er Jahre zurückkehren, also zu einer Politik, die – so dachten wir – zur Müllhalde der Geschichte gehört.

Erneut geht das Gespräch um die Herausbildung von Spitzenunternehmen – darunter ist zu verstehen: Monopole unter Staatsschutz, die die Ineffizienz fördern, Herausforderer ausschalten, niedrige Produktivität pflegen und auf langer Sicht minderwertige Produkte sowie Dienstleistungen liefern.

Konzerne wie Siemens in Deutschland und Alstom in Frankreich behaupten, sie bräuchten Größenvorteile, um erfolgreich zu konkurrieren. Was für eine Überraschung! Wann denn haben Großkonzerne anderes argumentiert?

Seit der Herausbildung der Innungen im Mittelalter versuchten Geschäftsleute schon immer, den Anbieterkreis klein zu halten und die Konkurrenz zu ersticken. Mit der Marktdominanz lässt sich wohl nur allzu bequem leben: dem zu begegnen sind Wettbewerbsregeln überhaupt entstanden.

Derartige Forderungen müssen abgelehnt werden – wie dies Margrethe Vestager – die EU Wettbewerbskommissarin – auch getan hat.

Es braucht nur ein Blick auf die europäische Autoindustrie, um die Gefahren der Größe zu erkennen. Groß, politisch einflussreich und verhätschelt, besonders in Deutschland, ist dieser Wirtschaftskreis unehrlichen Praktiken nachgegangen, anscheinend im Glauben, ihre Vormachtstellung würde sie über Recht und Gesetz setzen. Da er sich als geschützt ansah, hat er es versäumt, die Innovation voranzutreiben und mit dem Wandel hin zu Elektroautos und selbstfahrenden Fahrzeugen Schritt zu halten. Soweit zu den europäischen Spitzenunternehmen.

Hier konstatieren wir die Gefahr, wenn Regierungen sich der Lobbyarbeit ihren größten Industrien hingeben. Was aber lässt sich zur Argumentation sagen, wie dies die europäischen Konzerne gern bringen, dass sie eine Ausnahmeregelung brauchen, um mit China zu konkurrieren?

Kurzum: China hat ein System der Volkswirtschaft, das sich grundsätzlich vom westlichen Modell unterscheidet. Es wird flächendeckend staatlich dirigiert und somit ohne eigentliche Trennung zwischen dem staatlichen und dem privaten Sektor.

Bleibt abzusehen, ob dieses Modell längerfristig Erfolg bringt, aber eins ist sicher: Europa soll sich keine Illusionen machen, mit blasser und unvollständiger Nachahmung gleichziehen zu können – Europa mit ihrer Marktwirtschaft und kleiner Beimischung von Staat und Dirigismus.

Damit wäre Europa weder Fisch noch Fleisch. Mit halben Sachen wäre das Versagen vorprogrammiert.

Es stimmt, dass europäische (und US) Konzerne unter Nachteilen im Vergleich zu den staatlich subventionierten chinesischen Unternehmen leiden. Dies müsste aber mit der Handelspolitik angegangen werden, und nicht durch die Fragmentierung und Zerstörung der EU-Wettbewerbspolitik zum Nachteil der europäischen Verbraucher und der Innovation.

Auf langer Sicht muss Europa ihre Handelspolitik China gegenüber überdenken. Das ist nicht leicht getan – die WTO-Handelsregeln wurden nicht darauf ausgerichtet, große staatlich dirigierte Volkswirtschaften mit abzudecken. Inzwischen ist die WTO-Struktur für die zweitgrößte Volkswirtschaft ungeeignet.

Leider – anders als die USA – hat Europa anscheinend weder die Fähigkeit noch den Mut, kräftig gegen Chinas Missachtung der Regeln vorzugehen. Anstatt sein Versagen in einem Teilbereich zu korrigieren, fügt die EU Versagen in einem weiteren Bereich hinzu.

Mit ihrer liberalen Grundhaltung hebt sich Vestager als Wettbewerbskommissarin erfreulich von der Schläfrigkeit ihrer Vorgänger ab. Meiner Meinung nach hat sie noch strenger sein können und sollen. Obwohl pressewirksame Strafgelder erhoben wurden, blieben die Eingriffe in die monopolistische Marktstrukturen unzureichend.

Es wäre fatal für Europa, wenn ihre guten Leistungen rückgängig gemacht werden und wir zur gescheiterten Politik der Vergangenheit zurückkehren.

Die Übersetzung versorgte Paul Charles Gregory, www.language-for-clarity.de



STEUERT EUROPA AUF SEINE EIGENE „KUBAKRISE“ ZU?

IS EUROPE HEADED TOWARDS ITS EQUIVALENT OF THE CUBAN MISSILE CRISIS?

15th November 2018 by Times of Malta

von Joe Zammit-Lucia

Übersetzt von Paul Gregory (www.language-for-clarity.de)

Die Auseinandersetzung zwischen Rom und Brüssel über die italienischen Haushaltspläne hätte für die EU vom Zeitpunkt her nicht unpassender kommen können. Angesichts der Weitreiche der Herausforderungen: von Brexit bis hin zu einem stärker auftretenden US-Politik; vom Trotz der polnischen und ungarischen Regierungen bis hin zur anscheinend unlösbaren Einwanderungsproblematik; von der politischen Abschwächung von Angela Merkel und dem ungewissen Zeitpunkt ihres Ausscheidens bis hin zum steilen Absturz des heimischen Rückhaltes für Emmanuel Macron und seine Bekenntnis zu “Europa” – so hätte man es sich im Vorlauf der europäischen Parlamentswahlen nicht gewünscht.

Die Pattsituation mit Italien erweist sich als heikle Herausforderung für die Europäischen Kommission. Das anvisierte Haushaltsdefizit von 2.4% des Bruttoinlandsproduktes im kommenden Jahr fällt immerhin niedriger als die erlaubten Obergrenze von 3% aus. Selbst Frankreich sieht ein Defizit von BIP von 2.8% für nächstes Jahr vor und sein Haushalt wurde von der Kommission nicht abgelehnt. Die Schwierigkeit bei Italien liegt beim Kontext: das Land weist nach Griechenland die höchste Schuldenquote der Eurozone auf, währenddessen die im Haushaltsplan unterstellten Wachstumsprognosen nicht für glaubwürdig erachtet werden.

Allerdings bleibt Tatsache, dass kein Land die Schuldenlast als Anteil des BIP allein durch Einsparungen bei den Ausgaben wesentlich reduzieren kann. Erforderlich ist, dass das BIP-Wachstum den Anstieg der Schulden dauerhaft übertrifft, damit die Schuldenquote langfristig zurückgeht.

Hier ist es aber, wo Europa zurückbleibt. Denn es fehlt an einer glaubhaften Europapolitik, die ein dauerhaftes Wachstum in und jenseits der Eurozone hervorbringen kann. In der Tat hat die Eurozone die Eurokrise nur durch das Programm zur quantitativen Lockerung der Europäischen Zentralbank überlebt, das ausreichend Geld gedruckt hat, um die Wirtschaft der Euroländer aufrecht zu erhalten. Wenn auch das Programm die Eurozone vermutlich vor dem Zusammenbruch rettete, wird es von den Deutschen als übertriebenes Zugeständnis an Länder ohne Finanzdisziplin erachtet. Das mag sein. Aber damit wird vor Augen geführt, dass eine Einheitsstruktur für die Währung nicht nur schwierig sondern möglicherweise undurchsetzbar ist – es handelt es sich demgemäß um eine Universallösung, die die italienische Regierung ablehnt.

Damit wird eine weitere sinnwidrige Wirkung des Euros vorgeführt – nämlich steigende Renditen (d.h. höhere Zinssätze) für Anleihen des italienischen Staates. Normalerweise sinken die Renditen, wenn das Wachstum in etablierten Märkten mit eigener Währung zurückgeht – somit findet eine Abfederung statt. In der Eurozone ist das anders. Die Euroländer werden in einer Todesspirale des nachlassenden Wachstums und der steigenden Kreditkosten gefangen gehalten – hier bietet sich kein naheliegender Ausweg, nur das Übel der unzumutbaren Härte für die Bevölkerung über Jahre, sogar Jahrzehnte, hinweg.

Auch wenn die Kernkennzahlen in den Schlagzeilen Wachstum indizieren, merkt die allgemeine Bevölkerung davon wenig. So hat sich Spanien von den Krisenjahren mit einem BIP-Wachstum erheblich erholt, das das Ergebnis von Frankreich übertrifft. Die Löhne sind aber gleich geblieben, denn das Wachstum stammt weitgehend aus den Ausführen von großen, meist multinationalen Konzernen, die ihr Glück lieber an Aktionäre als an Arbeitnehmer weitergeben. Der Durchschnittsspanier hat keine nennenswerte Erholung erlebt.

Dieser Umstand führt Europa in höchst gefährliches Fahrwasser – und die Regierung Italiens hat es anscheinend darauf abgesehen, die damit verbundenen politischen Möglichkeiten auszuloten.

Nach einem Argument, das die Kommission vorführt, verletzt der vorgelegte Haushaltsplan die vorangegangen Verpflichtungen von Italien und nimmt einige vorher vereinbarte Reformen zurück. Die derzeitige Regierung kann aber überzeugend behaupten, diese Verpflichtungen würden in der Wahlurne begutachtet. Die vorangegangene Regierung wurde vom Wahlvolk eindeutig herausgeschmissen – somit stellvertretend für die Ablehnung ihrer Politik. Wenn die Kommission erneut darauf besteht, vorangegangene Verpflichtungen seien wichtiger als die Ergebnisse von demokratischen Wahlen und Volksabstimmungen, wie sie während der Griechenlandkrise getan hat, so gefährdet sie die Glaubwürdigkeit eines Europas auf demokratischem Fundament. Das würde nicht nur die Eckpfeiler der Union erschüttern, es wäre auch ein Geschenk an die vielen abwartenden Euroskeptiker sowie an die Mitgliedsstaaten, deren Regierungen es mit der Demokratie weniger genau nehmen.

Hilfreich ist auch nicht, dass die Kommission selbst die Regeln missachtet, indem sie von einer wirksamen Rüge um den Handelsüberschuss Deutschlands absieht, obwohl dieser übermäßig, dauerhaft und somit rechtswidrig ist und dabei die Eurozone destabilisiert.

Bleibt abzuwarten, wie das Tauziehen zwischen der Europäischen Kommission und Italien weitergeht. Die italienische Regierung spekuliert bestimmt, dass Europa sich einen Zusammenbruch Italiens nicht leisten kann, und auch nicht eine Annäherung daran, obwohl es sich mit einer imposanten Haltung gebärdet. Sie spekuliert ferner, dass sie die Wut über erlittenes Leid der Bevölkerung unmittelbar an Europa richten kann und somit nicht auf die „Märkte“ (die zu abstrakt sind, dass man eine Wut darauf haben kann) beziehungsweise die Politik, die die Regierung auftragsgemäß umsetzt.

Wenn in Wirklichkeit die EU überleben soll, so muss die Politik auf europäischen Ebene beim Haushalten von der Erbsenzählerei abrücken und stattdessen eine glaubwürdige Politik und Handlungsstrategie einschlagen, die zur Wirtschaftsbelebung und zum Wachstum führen. Das erfordert Maßnahmen, die zur Zeit – vorwiegend aufgrund des deutschen Widerstandes – unmöglich sind, nämlich eine größere Solidarität europaweit hinsichtlich Risikostreuung und Transferleistungen.

Während der Griechenlandkrise wurde das Land erst gefügig gemacht, als die EZB den angeschlagenen Banken die Liquidität abzuziehen drohte. Das wäre eine gewagte – vielleicht leichtfertige – EU, die eine Wirtschaft in der Größenordnung der italienischen samt Regierung an diesen Abgrund rücken würde.

Zur Zeit der Griechenlandkrise schrieb ich, dass Europa sich erneut im Kriege befindet. Ein Krieg mittels Geld und Finanzinstrumente anstelle Panzer und Kampfflugzeuge, aber immerhin ein Krieg. Um bei dieser Metapher zu bleiben, das Heranführen Italiens an diesen Abgrund könnte für Europa so etwas wie eine Kubakrise sein. Besser wäre es, nicht an diesen Punkt zu gelangen, wenn auch, wie üblich, bis zu einer dunklen Stunde der Ausweg verborgen bleibt.