Waiting for a Rainy Day

Ein Jegliches zu seiner Zeit

Sich nicht einschüchtern lassen

I.

Es gibt eine Reihe von Einstellungen des Gemüts, die ganz oder halbwegs verfemt sind. Dazu gehören Zynismus, Wut, Verlogenheit, Ungeduld, Rachedurst, Schadenfreude, Sadismus, Neid, Lüsternheit, Hochmut, Habgier, Feigheit, Faulheit, Groll, Geiz, Eifersucht und Ehrgeiz. Übergeordnete Eigenschaften, die als wesentliche charakterliche Defekte gelten, wären der Egoismus, die Gewaltbereitschaft, Menschenverachtung oder sonst ein Zerstörungsdrang. Man kann die entsprechenden abgewandelten Wörter als Vorwurf oder Verurteilung benutzen.

Meist werden die gegensätzlichen Begriffe als Lob ausgegeben. Somit hat es den Anschein, als habe man sich von den negativen Einstellungen immer fernzuhalten.

Immer?

Wir leben in der Zeit, und diese spielt größer mit, als man gemeinhin annehmen möchte: so zum Beispiel als Rahmen oder Zeitpunkt einer Handlung oder Äußerung. Ein Jegliches zu seiner Zeit.

Man stelle sich ein Menschenleben ohne die vermeintlich bösen Entgleisungen vor.

Es mag schon stimmen, dass, wenn das Verfemte gezielt gepflegt wird, dies zum Verhängnis werden kann. Aber daraus den Schluss zu ziehen, dass diese Gemütsregungen aus der menschlichen Psyche verbannt werden könnten oder sollten, ist übertrieben. Es ist schlimmer. Es zeigt sich hier das Überbleibsel einer Häresie, nämlich des Manichäismus, demzufolge das Menschenschicksal aus einem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse – und allein aus diesem – besteht. Mit der Ablehnung der Häresie ist nicht gesagt, dass die Kategorie des Bösen niemals angebracht ist.

Wir leben sowohl in der Zeit als auch in der Gesellschaft mit ihrer Eigendynamik. Man könnte von außen her, als Soziologe, Anthropologe oder Psychologe, anmerken, wie jede verfemte Gemütsregung situativ zurecht entsteht beziehungsweise wie sie über eine eigene Schlüssigkeit – Logik – verfügt. Von innen her, subjektiv, moralisch, stellt sich das Thema etwas anders dar. Wir reagieren aufeinander menschlich mit teils entgegengesetzten Ansprüchen, die auch Vorwürfe beinhalten können.

Es kommt im Einzelfall darauf an, ob die Kritik zielsicher oder doch verfehlt ist. Zu berücksichtigen ist ferner, dass man nicht ohne weiteres vom eigenen Temperament und eigenen Lebenserfahrungen ausgehen kann. Häufig sind Zurückhaltung und Nachsicht geboten.

So sind es weder der Groll, die Arroganz, die Gewaltbereitschaft noch die weiteren vermeintlichen Laster, die es an sich zu verurteilen gilt. Zu verurteilen sind diese – bei sich oder bei anderen – nur, wenn sie zur falschen Zeit, am verkehrten Ort, in Erscheinung treten. Es mag durchaus sein, dass dies eher vorkommt, als dass diese (im Übermaß giftigen) Spurenelemente gebraucht werden. Das ist aber nicht das Thema. Im Gegenteil: Zu gegebener Zeit ist (fast) alles erlaubt und vieles sogar geboten. Es ist moralisch oder charakterlich eher ein Defekt, wenn man sich zu gegebener Zeit der entsprechenden Gemütsregung nicht hingibt.

Umgekehrt gilt Ähnliches für die sogenannten Tugenden, wenn sie sich gleichfalls zu Unzeiten aufdrängen. So müssen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit auch mal unterdrückt werden. Die Kunst liegt jeweils darin, zu erkennen, wann.

Wer zum Beispiel versucht, nur aufrichtig zu leben, schadet womöglich sich und anderen, so wie es einmal geschehen kann, dass seine Aufrichtigkeit die Situation rettet. So soll man sich nicht vor dem Vorwurf fürchten, arrogant, unehrlich oder sogar unangenehm zu sein, vorausgesetzt, man kann sich vor Anderen nachvollziehbar oder vor sich selbst rechtfertigen.

II.

Ähnliches, anders gesagt: Regelverständnis und Charakter

Demnach würde der Umgang mit den vorgeblichen Lastern und Tugenden bei sich oder auch einem Anderen gegenüber so aussehen: Man habe bei sich (oder bei dem Anderen, zum Beispiel bei einem Freund, Kollegen, Verwandten oder Vorgesetzten) eine weit über die Norm hinausgehende Tendenz festgestellt, die es zu korrigieren oder anzumahnen gilt. So ist jemand ungebührend egoistisch oder großzügig; er ist nachsichtig, wo der Nutznießer keine Nachsicht mehr verdient, oder arrogant den unschuldigen Bescheidenen gegenüber. Man kann übertrieben respektvoll sein oder zu ehrlich, zum Beispiel da, wo die Wahrheit unnötig Schaden verursacht, oder wenn jemand Informationen einfordert, die ihm nicht zustehen. Authentisch mag man dort sein wollen, wo diese Treue zu sich fehl am Platz ist und in Anmaßung umschlägt. Es gibt Situationen, in denen die Gewaltbereitschaft angesagt ist; derjenige aber, der kürzlich wegen einer Gewalttat inhaftiert war, mag zu Recht eine andere Regel für sich aufstellen, als jemand, der sich seit eh und je brav und feige zurückhält.

So sieht eine Faustregel anders als ein Gesetz aus. Eine Regel kann man für sich allein machen, oder einem Anderen maßgeschneidert empfehlen; ein Gesetz nicht. Es gibt allerdings Rahmenordnungen, die dazwischen liegen. Hier gilt das Gebot, man mag gelegentlich die Regel sehr wohl überschreiten, man müsse sich aber die Missachtung gut überlegen; das heißt, die Überschreitung rechtfertigen können. Und das kann und soll man öfter, denn die Regeln greifen immer wieder zu kurz.

Denkbar wäre sogar, dass jemand verurteilt wird, weil er stur eine Regel eingehalten hat. Damit darf man nicht nur, moralisch gesehen muss man sogar zu seiner Wut, Arroganz, Habgier, Gewalttat und dergleichen mehr stehen. Natürlich schaden diese Haltungen zuweilen der Seele, wie eine Wunde in der gerechten Schlacht körperliche Spuren hinterlässt.

Um die Gesellschaft in kleinen Schritten zurecht zu rücken, wird immer wieder ein Opfer gefordert, und dieses Opfer liefert halt der Einzelne, der zunächst so oder so verachtet wird. Ein Merkmal der jahrtausendalten europäischen Kultur (das heißt, im Gegensatz zu östlichen Traditionen) besteht eben darin, dass sich der Verfemte später als Held erweist.

Es handelt sich somit bei den sogenannten Lastern & Tugenden um Charakterzüge, die es beizeiten zu pflegen oder einzudämmen gilt. Die Gesellschaft braucht Menschen mit verschiedenen Stärken & Schwächen, denn es ist unmöglich, dass ein Einzelner alle verkörpert. Man ist Rechtshänder oder Linkshänder. Psychologisch kann man nicht wie ein Chamäleon die Farbe ändern und sich unendlich anpassen, und wenn einer es anscheinend kann, so ist er eher Psychopath. Außerdem müssen die Mitmenschen sich auf eine gewisse Beständigkeit verlassen können. Auf den einen ist Verlass in mancher Sache, für weitere Belange wendet man sich besser an andere.

Die vorgeblichen Tugenden & Laster unterscheiden sich demnach nur darin, dass die „Tugenden“ meistens zu knapp bemessen sind und die Dosis „Laster“ zu großzügig. Oder es wird so beschrieben, dass die Verteilung (und nicht die Menge) im Vordergrund steht. An vielen Stellen fehlen die Tugenden da, wo sich die Laster zu Unzeiten breit machen.

Dabei ist ein anderes Verhältnis je nach gesellschaftlicher Rolle angesagt. In bestimmten Berufen muss die eine Eigenschaft auf Kosten anderer Eigenschaften überwiegen, in anderen ist es genau umgekehrt. So müsste der Friedensstifter oder Diplomat weniger aggressiv auftreten als der General oder Soldat. Beide müssen aber Format behalten. Ein anderes Beispiel wäre der Umgang mit der Zeit: Im Geschäftsleben muss man verschiedentlich auf Zeitaufwand oder Pünktlichkeit achten, während diese Aufmerksamkeit bei anders gearteten Aktivitäten untergeordnet ist.

Vor diesem Hintergrund ist es berechtigt, dass bei einer bestimmten Berufsausübung jemand wegen seiner Grundhaltung folgenschwer verurteilt werden kann; zum Beispiel, indem er aus einem Berufsverband ausgeschlossen wird, bei dem die Mitgliedschaft Pflicht ist. Ein Psychologe, der sich der Schadenfreude oder der Quälerei hingibt, dürfte somit nicht weiter praktizieren; ein Personalmanager, der sich mit Arroganz hervortut, dürfte ebenfalls seine Stelle verlieren. In solchen Fällen ginge es nicht darum, dass einzelne Normen oder Regeln verletzt werden, sondern dass die zugehörige Sensibilität fehlt und die Urteilsbildung Unreife bezeugt. Und mehr als sonst alles kommt es eben auf die richtige Urteilsbildung an.

Trotzdem kann man verkürzt eine Verallgemeinerung wagen und eine Aussage zum Beispiel dahingehend treffen, dass in unserer Zeit Arroganz, Bevormundung und Gier schlimm ausarten. Damit sind es nicht die Arroganz oder die Habsucht an sich, die verteufelt werden, sondern die Gesellschaft, die sie an falscher Stelle nicht nur duldet, sondern im großen Stil fördert.